Warum wir im Nachtdienst nicht allein sein wollen

Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen anonymen Bericht einer Bremer Krankenschwester von einer ganz normalen Nachtschicht:

Wer glaubt, dass im Nachtdienst wenig zu tun sei, da die meisten Patienten ja eh schlafen, der irrt. Ich möchte hier mal von einer Nacht auf Station erzählen, welche, gemessen am Stresslevel, so keine Seltenheit ist.

Als erstes bereite ich für die fast 30 Patienten die Infusionen vor. Das sind vor allem Antibiotika und sollten daher in genauen Zeitabständen gegeben werden. Heute Nacht nochmal 23 Uhr, laut Anordnung.

Natürlich kann ich mich nicht dreiteilen – somit bekommen die ersten ihre Infusion kurz vor 11, die letzten bekommen sie halb 12. Aber in dieser Nacht müssen die letzten bis kurz nach 12 warten, da ich nebenbei damit beschäftigt bin, eine sehr demente Patientin davon zu überzeuen, dass es besser sei, die Station nicht zu verlassen und dass sie bitte nicht in die anderen Patientenzimmer geht (sie stattet besonders gern den mit einem Keim isolierten Patienten einen Besuch ab).

Als ich dann, schon anderthalb Stunden im Zeitverzug, endlich die leeren Infusionsflaschen wieder abgenommen habe, klingelt plötzlich ein junger Patient, der das sonst nie tut. Ich lauf schnell zu ihm und sehe nur, wie alles voller Blut ist. Ihm läuft es schwallartig aus der Nase. Sofort informiere ich den diensthabenden Arzt. ‚Hoffentlich kommt er schnell auf Station‘. Ich lege dem Patienten schleunigst ein Coolpack in den Nacken und versuche in rasanter Geschwindigkeit, das Blutbad aufzuwischen. Zum Glück hat der Arzt gerade selbst keinen Notfall in der Notaufnahme und kommt schnell auf Station, um sich um den Patienten zu kümmern.

Das Ganze hat den Zimmernachbarn so aufgewühlt, dass dieser schon wieder eine rauchen gehen will. Nachts sind die Stationseingänge aber abgesperrt. Somit muss ich also jedes Mal bis ans Ende der Station laufen, um den Patienten dann wieder reinzulassen, wenn er fertig geraucht hat. Das wäre kein Problem für mich. Aber völlig gestresst, muss ich ihm in dieser Nacht mitteilen, dass ich das jetzt nicht mehr tun kann, weil ich schon total im Zeitverzug mit meiner Arbeit bin. Das tut mir zwar leid, aber ich kann es nicht ändern. Vor den Kopf gestoßen geht der Patient Richtung Zimmer.

So. Schon 2 Uhr. Ich muss endlich anfangen, für die Patienten die Medikamente zu stellen, die Kurven vorzuschreiben, die Station zu putzen. Oh verdammt! Ich hab‘ glatt vergessen, dass ich die eine Patientin alle zwei Stunden lagern muss, damit sie kein Druckgeschwür bekommt!!! Ich kenne die Frau schon. ‚Die pack ich nicht allein!‘. Ich rufe auf der anderen Station an und frage, ob mir die eine Kollegin mal kurz helfen könnte. Sie kommt – aber hat selbst kaum Zeit, weil sie oben noch so viel zu tun hat. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, da ich sie von ihrer Arbeit abhalte. Aber ich kann diese Patientin wirklich nicht allein lagern, geschweige denn allein ihre Schutzhose wechseln. Sie ist so unglaublich schwer und nicht in der Lage mitzuhelfen. Auch zu zweit haben wir da unsere Probleme. Alle zwei Stunden kann ich die Kollegin leider nicht rufen, weil sie sonst oben die Patienten vernachlässigt… Ich versuch’s ab da allein… verrenke mir bald den Rücken. Ich bin noch nicht mal 30 und bekomm hier schon so heftige Rückenschmerzen.

2.30 – stelle gerade die Medikamente. Verdammt! Es klingelt schon wieder! Es ist der Patient mit der Trachealkanüle. Wenn ich da nicht sofort hinrenne, kann es passieren, dass er erstickt! Ich kenne ihn… er hat immer ein schlechtes Gewissen, zu klingeln, weil er weiß, wie viel wir zu tun haben..und auch, dass wir nachts ganz allein sind. Deswegen klingelt er immer erst, wenn er schon richtig Atemnot hat. Wenn ich könnte, würde ich öfter nach ihm sehen bevor er klingeln muss. Aber auch heute geht das mal wieder nicht… Eigentlich sollte man sich schon beim Richten der Medikamente konzentrieren – es passieren immerhin so leicht Fehler – aber das ständige Klingeln der Patienten lässt das nicht zu.

Okay, es ist 4 Uhr. Ich habe immer noch nicht die Station geputzt und die Kurven auch nur so halb kontrolliert. ‚Das mach ich jetzt ganz schnell‘. Ich will gerade damit anfangen und dann – ‚Oh nein.. es klingelt schon wieder!‘ Ich lauf schnell hin. Eine Patientin sitzt am Boden vor ihrem Bett. „Rausgerutscht“, meint sie. Ich bekomm sie nicht allein hoch. Also muss ich wieder oben anrufen. Jetzt habe ich wieder ein richtig schlechtes Gewissen… Aber ich habe es versucht. Ich bekomm die Frau einfach nicht allein ins Bett. Sie hat kaum Kraft in den Beinen. Okay, Hilfe kommt. Schnell ins Bett. Der Frau geht’s gut. Schnell die Pieper-Nummer des zuständigen Arztes herausfinden und den informieren, und das Sturzprotokoll ausfüllen! Ihr geht’s zwar gut, aber das ist so Standard. Ist ja richtig so.

4.30 Uhr. Jetzt aber! Schnell putzen und die Kurven kontrollieren. 5.15 Uhr. Ich bin seit 21 Uhr im Dienst und habe noch nichts getrunken, war nicht einmal auf Toilette.

Mir fallen plötzlich alle meine Grundbedürfnisse ein. Ich schnappe mir schnell ’ne Flasche Wasser und renne auf’s Klo. Denkt, was ihr wollt – aber ich hab den Liter auf der Keramikschüssel leergetrunken.

5.25 Uhr. Nochmal in alle Zimmer gucken, ob es den Leuten einigermaßen gut geht. 5.45 Uhr, der Frühdienst trudelt ein. Ich mach die Übergabe, fahre nach Hause; kann nicht mehr. Bin total fertig, aber auch zu aufgekratzt, um schlafen zu können.

Vielleicht denken jetzt einige: Hey, ist doch alles ganz okay gelaufen. Die Patienten haben es überlebt und die anfallende Arbeit wurde noch pünktlich erledigt. Und dass keine Zeit für eine Pause war, ist doch normal. Aber ich denke mir:

Es tut mir leid, dass die eine Frau bald 20 Minuten auf dem kalten Boden saß.

Es tut mir leid, dass ich dem einen erwachsenen Mann das Rauchen verbieten musste (ja, auch wenn es ungesund ist).

Es tut mir leid, dass ich die Frau, die sich selbst nicht mehr bewegen kann, beinahe vergessen hätte.

Es tut mir leid, dass der eine Patient so lange mit dem Klingeln warten will bis er Atemnot hat.

Aber hey, es sind ja nur noch zwei weitere Nächte…

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